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Alles, was ich nicht bin

Karen van den Berg

Dreamer 2024, Öl auf Leinwand, 90 × 80 cm
Dreamer 2024, Öl auf Leinwand, 90 × 80 cm

Schnell gezogene, unregelmäßige, dicke, schwarze Pinselstriche fächern sich auf um eine Fläche aus schwarz und rot verschmutztem Inkarnat. Dort, wo der frisch ins satte Schwarz getauchte Pinsel auftrifft, laufen Farbtropfen die Leinwand herab. Den Hintergrund bildet helles Grau, das mit loser Bewegung von links nach rechts auf den Bildträger aufgebracht wurde. Darunter scheinen andere Farbschichten hindurch. Ganz links unten leuchtet ein Signal-Rot hervor. Am oberen Bildrand liegen helles Graublau und übermalte schwarze Linien unter dem schmutzig durchzogenen Hellgrau. – So in etwa ließe sich die 90 x 80 cm große, 2024 entstandene Malerei Dreamer beschreiben, würde man hier nicht zugleich auch den Kopf einer Person mit Irokesenfrisur erkennen.

Die Malereien der 1989 in Jewpatorija auf der Krim geborenen Künstlerin Ryta Miskevych, die 2011 zum Studium nach Deutschland kam, laden stets zu einem Sehen im doppelten Sinne ein. Sie beschäftigen zum einen das Auge durch gestische Farbereignisse und sind zum anderen Abbilder einer meist nur schemenhaft erkennbaren, aber gleichwohl vertraut erscheinenden Wirklichkeit.

Die Saporosher Kosaken schreiben einen Brief an den türkischen Sultan 2024, Öl auf Leinwand, 160 × 220 cm
Die Saporosher Kosaken schreiben einen Brief an den türkischen Sultan 2024, Öl auf Leinwand, 160 × 220 cm (Foto Isabel Meyer)

In der Einzelausstellung in der Kunsthalle Kleinschönach am Bodensee hing gleich rechts am Eingang ein 160 x 220 cm großes Werk aus dem Jahr 2024, dessen konkrete Vorlage ich sofort wiedererkannte. Es trägt denn auch denselben Titel wie die um 1880 entstandene Gemäldeskizze, von der es inspiriert ist: Die Saporoger Kosaken schreiben einen Brief an den türkischen Sultan. Miskevychs Malerei aus schnellen Strichen interpretiert hier eines der bekanntesten Bilder der Geschichte der Kosaken, gemalt von dem 1844 in Tschuhujiw bei Charkiv geborenen Maler Ilja Repin, dem wohl wichtigsten Vertreter des „russischen“ Realismus‘ im ausgehenden 19. Jahrhundert. Das Bild, das Miskevychs als Vorlage diente, setzte dem unbändigen virilen Temperament der Kosaken ein ikonisches Denkmal.[1]

Ilya Repin
Vorläufige Skizze 1880, Öl auf Leinwand, 67 × 87 cm.,Staatliche Tretjakow-Galerie, Moskau
Ilya Repin
Vorläufige Skizze 1880, Öl auf Leinwand, 67 × 87 cm.,Staatliche Tretjakow-Galerie, Moskau

Die Personen in Repins Bild sind hyperrealistische Porträts zeitgenössischer Größen aus Politik und Kultur, die in die Rolle ihrer Vorfahren schlüpfen und ein Ereignis nachspielen, das sich 1676 zugetragen haben soll. Die historische Szene zeigt die Kosaken dabei, wie sie einem Schreiber einen Brief an den Sultan Mehmed IV. diktieren. Der Legende nach verfassten sie einen Schmähbrief mit kaum zu überbietenden vulgären Beschimpfungen, der in seinem derben Vokabular den Battles heutiger Gangstarapper in nichts nachsteht. Im Brief wünschten die Kosaken den türkischen Sultan zum Teufel, anstatt sich – wie von ihm gefordert – zu unterwerfen.[2] Der Spaß, den die Männer beim Diktieren angeblich hatten, ist ihnen in Repins Gemälde ins Gesicht und in ihre Körper geschrieben.

Miskevych fängt in ihrer Malerei dagegen nurmehr das Tumulthafte der Szene ein – wie eine Skizze einer fernen Erinnerung. An die Stelle von Repins leuchtendem Rot sind gedeckte Töne getreten. Wer die Legende und das historische Gemälde nicht kennt, sieht in Miskevychs Werk allein, dass inmitten in von wild gestikulierenden Männern jemand sitzt und schreibt. Eine andere Gestalt im Hintergrund zeigt, wie in der Vorlage auch, nach links ins Nirgendwo. Die Gesichter aber sind blicklos – so wie in vielen Werken der Ukrainerin.

In der Kleinschönacher Ausstellung stellt das Bild die einzige historische Referenz dar, und ist auch das einzige Werk, das auf die Herkunft der Künstlerin verweist. Das Werk wirkt wie eine ferne, undeutliche, aber doch intensive Erinnerung, in der die Körper der handelnden Figuren wie ineinander verstrickt erscheinen. Alle anderen Bilder verarbeiten eher popkulturelle Motive und Medienbilder. Aber die fehlenden, leergelassenen oder übermalten Gesichter sind ein häufig wiederkehrendes Merkmal – etwa auch in der Arbeit Im Liegen (2022, Öl auf Leinwand 45 x 35 cm).

Im Liegen 2022, Öl auf Leinwand, 45 × 35 cm
Im Liegen 2022, Öl auf Leinwand, 45 × 35 cm (Foto Tenki Hiramatsu)

Auch der Dreamer mit der Irokesenfrisur hat weder Augen noch Ohren. Das Haupt ist leicht gesenkt und im Profil zeichnet sich ein verschlossener Mund ab. Die fehlenden Körperöffnungen verleihen der Gestalt etwas Hermetisches. Nur ein paar rote Farbspritzer, die wie aus dem Gesicht springen, wirken dem Eindruck der Verschlossenheit entgegen. Ansonsten scheint der Dreamer bei und für sich zu sein – unzugänglich für unseren Blick. Auch die Pinselstriche verbergen mehr als sie zeigen. Dahinterliegendes, das Elemente der Gestalt im Vordergrund wiederholt, schimmert hindurch, aber es bleibt eben nur eine Ahnung von etwas, das wir nicht erkennen können. Das Bild lädt nicht dazu ein, sich in den Dargestellten hineinzuversetzen, sondern blickt von außen auf ihn, wie auf einen Jemand, der eben auch da ist, mit uns diese Welt teilt, jemand, der wir nicht sind, den wir nicht kennen, der wir aber sein könnten. „Alle Humanität beruht auf der gar nicht selbstverständlichen Fähigkeit des Bewußtseins, sich nicht als den denken zu müssen, der man ist, sondern jeden anderen als den, der man sein könnte“, schrieb der Philosoph Hans Blumenberg.[3] Es sind solche Assoziationen, die Miskevychs Bilder gesichtsloser Personen wecken.

Es mag manchen überraschen, dass die Ausstellung nicht nur sehr unterschiedliche Motive vereint, sondern auch vollkommen abstrakte Malereien umfasst. So hängen neben erotischen Szenen, gesichtslosen Porträts, posierenden Models aus Modezeitschriften, Tieren, deren Augen wie mit einer Infrarotkamera aufgenommen gespenstisch aus der Dunkelheit hervorleuchten oder Manga-artigen Gestalten auch gegenstandslose, ruhige Musterformationen und abstrakte Farbmalerei.

Ausgehend von diesen Werken lässt sich sofort begreifen, dass es der Künstlerin, die in Charkiv, Mainz und Karlsruhe Malerei studierte, um das Malen selbst geht, um das Malen als einen Akt der Weltannäherung; oder, wie die Künstlerin selbst im Gespräch sagt, um den Versuch, „wach zu sein für die Welt“ und in ihr um eine Freiheit des Handelns zu ringen.

Was Miskevych in der Ausstellung zu sehen gibt, sind denn auch keine bemüht ausgesuchten, Bedeutsamkeit heischenden Sujets. Auch negiert ihr Malduktus jeden individuellen Ausdruck und jede individuelle Handschriftlichkeit, in der sich konventionelle Zeichen künstlerischer Urheberschaft oder Subjektivität zu erkennen geben würden. An keiner Stelle drängt sich die Malerin selbst mit ihren individuellen Erfahrungen in den Vordergrund. Es ist die Tätigkeit des Malens selbst, die wichtig scheint: als ein Tun, in all seiner Zufälligkeit und all seiner Vorläufigkeit.

Die Philosophin Hannah Arendt unterschied in ihrem berühmten 1958 erschienenen Werk Vita Activa oder vom tätigen Leben zwischen den Begriffen Arbeiten, Herstellen und Handeln. Beim Herstellen komme es auf das Endprodukt an, Handeln dagegen könne niemand allein; es sei eine politische Tätigkeit, stets auf andere angewiesen, auf die das Handeln einwirkt oder mit denen gemeinsam es vollzogen wird. Arbeiten hingegen sei eine Tätigkeit, die nie aufhöre. Sie hat keinen Anfang und kein Ende. Der Abwasch muss immer wieder getan werden. Arbeit richtet sich auf das Überleben.[4]

Wollte man Miskevychs Werke in diese Systematik einordnen, so geht es in ihnen um das Arbeiten im Arendtschen Sinne, um eine Aufmerksamkeit für das Leben als solches, mit all seinen Kontingenzen und allen Momenten des schlichten Tätigseins. Miskevychs Werke fassen die Gegenwart daher nicht als etwas Krisenhaftes ins Auge, auch zeigen sie nichts Heroisches. Sie sammeln das, was geschieht und was uns überall begegnen kann: auf der Straße, in den Massenmedien, im Internet, im Museum, auf Plakatwänden, in der Natur. Die Künstlerin interessiert sich nicht für exklusive Erlebnisse, sondern für zugängliche ubiquitäre Motive, die vertraut sind und fremd zugleich. Diese lotet sie durch ihre Malerei in ihrer Erfahrungstiefe aus.

Sportsman 2023, Öl auf Leinwand, 210 × 210 cm
Sportsman 2023, Öl auf Leinwand, 210 × 210 cm

Die 210 x 210 cm große Malerei mit dem Titel Sportsman von 2023 etwa gibt nur dünnflüssig verlaufendes Gelb, Weiß und Grau und fleischfarbige Flecken zu sehen – verteilt auf einer quadratischen Leinwand. An der linken oberen Ecke werden die dahinfließenden durchscheinenden Farbwolken und Farbspritzer gehalten von einem dunkeln Bordeaux, das sich in einem pink schimmernden klaren Bogen von dem hellen Gelb und Ocker abgrenzt.

Warum dieses Bild Sportsman heißt, bleibt rätselhaft, hat, wie die Künstlerin sagt, mit persönlichen Erinnerungen zu tun. Gelbtöne und Weiß wurden mit einem breiten Quast aufgebracht. Die dünnflüssige Farbe verläuft auf der Leinwand, mischt sich mit weißen und grauen Farbspuren, die wie auf die Leinwand geworfen scheinen, daneben leicht nach rechts aus der Mitte versetzt zwei inkarnatfarbige Flecken. An einigen Stellen schimmert die Farbe, glüht auratisch; an anderen schillert sie sanft. Es sind gleichermaßen Farbformationen des Verfalls und der Verwundung wie Eindrücke, die von einer Welt in statu nascendi künden, einer Welt, die nach uns kommt oder vor uns war.  

Hippopotamus 2023, Öl auf Leinwand, 210 × 210 cm
Hippopotamus 2023, Öl auf Leinwand, 210 × 210 cm, (Foto Isabel Meyer)

Miskevychs Malereien verschränken Wirklichkeiten. Ist das Gebilde links in der Malerei Hippopotamus (2023, Öl auf Leinwand, 210 x 210), ein Stuhl? Deutet die blaue Linie rechts eine Tischplatte an? Sind die roten Umrissformationen oben links im Bild übergroße nilpferdförmige Plätzchenformen oder etwas ganz anderes?  

Manga Mädchen 2024, Öl auf Leinwand, 84 × 75 cm
Manga Mädchen 2024, Öl auf Leinwand, 84 × 75 cm
Redend über 2023, Öl auf Leinwand, 150 x 180 cm
Redend über 2023, Öl auf Leinwand, 150 x 180 cm (Foto Tenki Hiramatsu)

Wie vertraut kann uns eine Welt sein, die so grundverschiedene Dinge, Nicht-Dinge, Halb-Dinge, Zeichen, Codes, Atmosphären, Farben und Gefühle bereithält, die Manga-Charaktere und erotische Szenen vereint, bei denen die Körper im Grund verschwimmen? Miskevychs Werke sind Ansammlungen des Uneindeutigen, sind wie jene Gedankenflüsse, die uns wichtig vorkommen, sich aber nicht festhalten lassen. Die Künstlerin erzeugt eine Bildwelt, die sich auf seltsame Weise entzieht und doch da ist, eine Welt, die ohne Drama und Schrecken auskommt. Dabei ist entscheidend, dass sie bei alledem kein souveränes Malerin-Selbst in den Vordergrund drängt. So werden die Dinge, Formationen und Halb-Dinge (wie der Stuhl, der vielleicht keiner ist) gerade dadurch bedeutsam, dass sie keine greifbare Bedeutung haben, sondern einfach nur aufscheinen, kommen und gehen.

Nun lässt sich angesichts der Bilder fragen, was es heißt, so zu malen im sogenannten Post-Internet Zeitalter, in einem Zeitalter der Hyperpräsenz medialer Bilder. Was heißt es, Malerin sein zu wollen in einer Epoche, in der die Artikulation und Situiertheit der eigenen Identität wie auch die Rede in der ersten Person Singular in Wissenschaft und Kunst, wie der US-amerikanische Politikwissenschaftler Bernard Harcourt 2020 schrieb, zur neuen Leitformel geworden sind?[5] Ganz offenbar verweigert Miskevych derartige, weit verbreitete „first-person expressions“, wie Harcourt sagt. Vielmehr kommt angesichts ihrer Bilder die alte Frage nach der Eigentümlichkeit der Malerei als Medium auf.

Malerei ist fraglos ein Medium, mit dem sich Menschen seit jeher an der Welt abgearbeitet haben, mit der wir die Welt noch einmal erzeugen, sie verdoppeln, um zu ihr auf Abstand zu gehen. Malerei, so scheint es angesichts Miskevychs Werken, ist dabei gleichermaßen Weltannäherung und Weltentfernung. Sie gibt uns nichts zu lernen. Sie ist vielmehr ein Modus, der es erlaubt, tätig zu sein, ohne souverän sein zu müssen, eine Tätigkeit zu vollziehen, die uns davon entlastet, allem einen Sinn geben zu müssen und doch zugleich vor Gleichgültigkeit schützt. Auch kann Malerei, das zeigen Miskevychs Werke, helfen, uns selbst nicht für allzu bedeutsam zu halten und vor allem über all das zu staunen, was vor Augen steht und was nicht wir selbst sind.


[1] Es gibt mehrere Varianten dieses Bildes. Die Vorlage, die Miskevych benutzt, ist eine Vorskizze des Meisterwerkes, das sich heute in St. Petersburg befindet. Diese von Miskevych benutzte Vorskizze wird heute in der Tretyakov-Galerie aufbewahrt. Vgl. https://www.artrenewal.org/artwork/index/55122; https://en.wikipedia.org/wiki/File:Reply_of_the_Zaporozhian_Cossacks_(sketch,_1893,_Kharkiv).jpg und https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/b/b4/Reply_of_the_Zaporozhian_Cossacks_%28sketch%2C_1880-90%2C_GTG%29.JPG.

[2] Thomas M. Prymak: Ukraine, the Middle East, and the West Montreal, McGill-Queen’s University Press 2021. 173-199.

[3] Hans Blumenberg: Die Sorge geht über den Fluß, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1987, S. 69 (Kursivierungen im Original).

[4] Hannah Arendt: Vita activa oder vom tätigen Leben, München/Zürich: Piper 2016 S 99ff.

[5] Bernard Harcourt: Critique and Praxis, New York: Columbia University Press 2020, S.17.